Bedeutende Spielerinnen – Paula Kalmar-Wolf

Paula Kalmar-Wolf – eine vergessene Wiener Schachmeisterin

Die erste österreichische Schachmeisterin:
Paula Kalmar-Wolf.
Ein Bericht von Herrn Ehn.

Wer kennt heute noch Paula Kalmar-Wolf? Die Wiener Meisterin war die einzige Weltklassespielerin Österreichs. Sie kam bei den vier Frauenweltmeisterschaften, an denen sie teilnahm, stets unter die ersten Drei, gewann ein Jahrzehnt lang fast alle Frauenturniere in Österreich und ist dennoch in diesem Land und in dieser Stadt fast völlig vergessen. Die Spielstärke von Kalmar-Wolf war bemerkenswert. Viele Wiener Spitzenspieler, die das Spiel der „Damen“ zunächst höhnisch kommentierten, mussten sich ihr in Turnieren und Wettkämpfen geschlagen geben. Ihrer Initiative waren nicht nur einige Lernprozesse bei Männern zu verdanken, sondern auch viele organisatorische Impulse für das Frauenschach, ja man kann zu Recht behaupten, dass sie allein es war, die das Frauenschach in Österreich zum Leben erweckte.
Fast gar nichts wissen wir über ihre ersten drei Lebensjahrzehnte. Sie wurde laut den historischen Meldeunterlagen der Polizeidirektion Wien am 11. April 1880, und nicht im März 1881, wie fälschlicherweise in fast allen Quellen, z.B. auch in der Wikipedia zu lesen ist, in Agram (heute Zagreb) als Paula Klein geboren. Agram war damals die Hauptstadt des Königreichs Kroatien und Slawonien und gehörte als Nebenland Ungarns zur österreichisch-ungarischen Monarchie. Wie sie später feststellte, spielte niemand in ihrer Familie Schach. Wann Paula Klein nach Wien gekommen ist und wann sie zu Paula Kalmar wurde, ist nicht bekannt. Ob und wann diese Ehe geschieden wurde oder ob Kalmar starb, ist ebenfalls nicht bekannt. Jedenfalls entstammte dieser Ehe zumindest ein Kind. Über ihr Privatleben berichtet sie sehr wenig, aber doch genug, um sich ein Bild von ihr zu machen, das dieses Dunkel ein wenig erhellt:
„In einer harten Schule des Lebens aufgewachsen, seit früher Jugend auf eigenen Füssen stehend, trotz Ehe, trotz Wirtschafts- und Muttersorgen, meinen Lebensunterhalt immer mit eigenen Händen und eigenem Kopf verdienend, entwickelte sich in mir frühzeitig ein ungeheurer Lebenstrotz, der mich befähigte, alle mir vom Schicksal in so reichem Maße zugedachten Widerwärtigkeiten zu bekämpfen und zu besiegen.“ (Neue Wiener Schach-Zeitung 1923, 23)
Paula Kalmar war von Beruf Modistin, war selbstständig und hatte bis zu ihrem vorzeitigen Tod in der Alserstrasse im 9. Wiener Bezirk ein eigenes kleines Atelier. Eine resolute Frau mit modernen Ansichten tritt uns entgegen, die trotz finanzieller Widrigkeiten und einer typischen Mehrfachbelastung sich trotzdem für das Schachspiel, das sehr zeitraubend ist und eine gewisse Muße voraussetzt, einen wichtigen Platz in ihrem Leben freikämpfte.

» Lesen Sie auch einen sehr interessanten, von Frau Kalmar geschriebenen Artikel.

Das Schachspiel lernte Paula Kalmar erst Ende 1913, also mit über 30 Jahren, über einen Bekannten, den Magistratsbeamten Johann Schöpfleuthner kennen. Sie lernte dann einige Monate für sich nach dem bekannten Lehrbuch von
Dufresne. Dann suchte sie den Wiener Amateur-Schachclub auf und wurde Mitglied. Der Wiener Amateur-Schachclub, gegründet am 29. 12. 1897, war damals bereits einer der größten und beliebtesten Schachvereine Wiens (1913 über 100 Mitglieder); der älteste übrigens, der noch immer besteht. Man bot hier Gratisvorträge und Einführungen in das Schachspiel für jedermann an, es wurden interne Turniere, Wettkämpfe und Fernpartien gespielt. Die bekanntesten Mitglieder waren angehende Großmeister, Beamte und Intellektuelle, wie die Brüder Arthur und Savielly Tartakower, Richard Réti, Heinrich Wolf, Hermann Weiß senior, und zeitweilig sogar Dawid Przepiórka und Aaron Niemzowitsch. 1913 war der Lehrer Otto Strobl Präsident, Sitz des Klubs war das Café Liebighof. In dieser anregenden Umgebung machte Paula Kalmar schnell Fortschritte. Zunächst besuchte sie den Klub nur einmal pro Woche, „was für meinen Appetit natürlich viel zu wenig war“ (Neue Wiener Schach-Zeitung 1923, 23), ab 1915 begann sie täglich zu spielen und nahm Unterricht bei Richard Réti und nach dem Ersten Weltkrieg vor allem bei Heinrich Wolf, der 1925 auch ihr zweiter Ehemann wurde: „Und er war es, der mir den eigentlichen Geist jenes Spieles erschloss, das mir eine unerschöpfliche Quelle der Freude und des Vergnügens ist.“ (Neue Wiener Schach-Zeitung 1923, 23) Leider hielt diese Ehe nur wenige Jahre.
Ihre Spielstärke war bis Mitte der zwanziger Jahre so sehr gewachsen, dass sie als „Kontinentalmeisterin“ galt, denn die unbesiegbare Ausnahmeerscheinung im Frauenschach, Vera Menchik, war ja in England ansässig. Schon 1923 konnte Paula Kalmar stolz feststellen: “Mit Genugtuung erfüllt es mich, dass ich den Mut aufbringe, mich allen Spielern zu stellen, die mich herausfordern.“ Zu einer internationalen Karriere wurde sie von keinem geringeren als Rudolf Spielmann ermuntert, der ihre Spielstärke mit der der Engländerinnen gleichsetzte. Er irrte sich nicht in ihrem Talent. 1921 regte Kalmar das erste Frauenturnier in Wien an und überredete starke Spielerinnen wie Cilly Ausch, Malvine Stern oder Josefine Pohler, den Schritt in die damals männerdominierte Öffentlichkeit des Schachspiels zu wagen:

Die einschlägigen Turniertabellen können mühelos über Herrn Ehn angefordert werden.

[Wiener Schach-Zeitung 1931, 241]
Paula Kalmar-Wolf starb überraschend am 29. 9. 1931 im 51. Lebensjahr in Wien an Diabetes, viel zu früh, um den großen Aufstieg der Frauen im Spitzenschach mitzuerleben. Aber schon 1923 erkannte sie fast prophetisch in einem Artikel in der Neuen Freien Presse (siehe Anhang): „Trotz der zahlreichen Anhängerinnen des edlen Spiels hat die Welt bis Ende des vorigen Jahrhunderts noch nichts von einer stark spielenden Frau gehört. Die Ursache ist darin zu suchen, dass Frauen Jahrhunderte hindurch dem öffentlichen Leben ferngehalten wurden. Ich bin überzeugt, dass es in 50 Jahren auch weibliche Großmeister geben wird.“

Daunke – Kalmar-Wolf, Wien, 26.12.1925

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Lc5 4.d3 d6 5.Sc3 Sf6 Damit ist die Normalstellung des italienischen Vierspringerspiels gegeben. 6.h3 Üblicher und sicher besser ist hier 6.Le3; der Bauernzug leistet nichts für die Entwicklung und die Fesselung vor der Rochade war nicht zu fürchten. 6… 0–0 Vorsichtiger war 6… Le6, wie Réti in gleicher Stellung mit gutem Erfolg im Göteborger Turnier gegen Bogoljubow zog. 7.0–0 Konsequenter war es, nun mit 7.Lg5 den Angriff aufzunehmen. 7… Sa5 8.a3 Um nach dem Läufertausch nicht durch Lb4 unangenehm belästigt zu werden. 8… Sxc4 9.dxc4 a6 Um sich das Läuferpaar möglichst lang zu erhalten. 10.Dd3 Sh5 11.b4 La7 12.Td1 Mit der Drohung Sxe5. 12… Le6 13.Le3 Lxe3 14.Dxe3 Lxc4 Mit 14… Df6! Konnte Schwarz den bereits errungenen Stellungsvorteil festhalten. 15.Sxe5 Le6 16.Sf3 Viel besser ginge der Springer nach d3 zurück. 16… Df6 17.Sd5? Der entscheidende Fehler; nun musste 17.Se2 geschehen, um dem gegnerischen Ritter das wichtige Feld f4 zu nehmen. 17… Lxd5 18.exd5 Sf4 19.c4 Pariert die Drohung Sxd5! 19… Tfe8 20.Db3 Te2! 21.Ta2 Verliert einen wichtigen Bauer; aber Schwarz stand schon weit überlegen und gegen die Drohungen Tae8 und Dg6 musste etwas unternommen werden. 21… Txa2 22.Dxa2 Sxh3+ 23.Kf1 Te8 24.Sd4 Sf4 25.Dd2 Dh4 26.Kg1 Dg4 27.f3 Falls 27.g3, so 27… h5 drohend h4 mit rascher Entscheidung. 27… Dg5! 28.g4 Auch dieser Zug, so sehr er auch die Stellung schwächt, ist nun erzwungen, wegen der Drohung Te2! usw. 28… h5 29.Dh2 hxg4 30.Dg3 Te2!! Eine ebenso glänzende wie zwingende Entscheidung; die weiße Dame ist auf keine Weise zu retten. 31.Kf1 Tg2 32.Dxg2 Auch andere Züge helfen nicht mehr, z.B.: 32.De1 Dh6 33.De8+ Kh7 34.De4+ g6 nebst baldigem Matt durch Dh1+ etc. 32… Sxg2 33.Kxg2 gxf3+ 34.Kf2 34.Kxf3 verbietet sich wegen 34… Dh5+. 34… Dg2+ 35.Ke3 f2 36.Td2 f1S+ Aufgegeben. Die letzten fünf Züge hätte sich die Breslauer Meisterin wohl sparen können; indessen es sei das Vorrecht der Damen, bis zum letzten Augenblick die Hoffnung niemals aufzugeben.
[Kommentar: Heinrich Wolf, Quelle: Wiener Schach-Zeitung 1926, 6-7]

Gerbec – Kalmar-Wolf, Wien, Cupturnier, März 1931

1.e4 c6 2.d4 d5 3.exd5 cxd5 4.Ld3 Ein System gegen die Caro-Kann-Verteidigung, das Jahrzehnte später durch Bobby Fischers Sieg über Tigran Petrosjan (Belgrad 1970) populär wurde. 4… Sc6 5.c3 Sf6 6. h3 Heute würde man 6.Lf4 bevorzugen, denn jetzt kann sich Schwarz mit 6…e5 befreien. 6… e6 7.Sf3 Ld6 8.0-0 h6 9.Sbd2 Db6 10.Te1 0-0 11.Sf1 Dc7 12.Le3?! Ein Zug, der nichts leistet. Stärker war 12.De2 nebst Se5. 12… a6 13.Tc1 b5 14.Lb1 Te8 15.Dd3 Lb7 Schwarz bleibt angesichts des weißen Aufmarsches recht gelassen. 16.g4?! Weiß setzt alles auf eine Karte – den Königsangriff. Doch so gut ist seine Stellung wieder nicht, dass er sich eine derartige Schwächung ungestraft erlauben könnte. 16… Lf4! Bremst den Tatendrang des Weißen völlig. 17.Lxf4 Dxf4 18.Se5? Bringt sich konsequent in noch größere Kalamitäten. 18.De3 Dxe3 19.Sxe3 sieht spielbar aus. 18… Se4 19.f3?! Besser war der Rückzug 19.Sf3, denn jetzt tanzt der Springer um die gelockerte Königsfestung. 19… Sxe5 20.dxe5 Sg5 21.Kg2 d4! Öffnet die Diagonale für den Lb7. Es gibt keine Rettung mehr für Weiß. 22.Sh2 dxc3 23.Txc3 Ganz schlimm wäre 23.Dxc3? Tac8! 23… Ted8 24.Df1? Führt die Partie endgültig in den Untergang. Vielleicht kann sich Weiß nach 24.De3 Td2+ 25.Te2 noch retten. 24… Td2+ 25.Te2 Tad8 26.Tc2 Td1 27.Df2 Oder 27.Te1? Txe1 28.Dxe1 Sxf3. 27…Txb1 Vor lauter guten Zügen sieht Schwarz das elegante Finish mit 27… Sxf3! 28.Sxf3 Lxf3+ 29.Dxf3 Tg1+ nicht. Weiß hatte aber ohnehin schon genug und gab auf. 0-1
[Kommentar: Michael Ehn, Quelle: Wiener Schachzeitung 1932, 312]